Quelle:
"Dienstliche Hinweise der Bundesagentur zu § 21 SGB II", die BA folgt
darin den Empfehlungen des "Deutschen Vereins für öffentliche und private
Fürsorge"
Kostenaufwendige Ernährung kostet einfach mehr
Niedersächsische Gerichte stoppen Sozialhilfe-Kürzungen
für Kranke
Kranke, Behinderte oder von Krankheit bzw. von Behinderung
bedrohte Personen bekommen nach § 23 des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) eine
Zulage in angemessener Höhe zum Sozialhilfe-Regelsatz, falls sie nach
ärztlichem Gutachten eine besondere und teure Ernährung benötigen. Doch diese
Krankenkostzulage wurde im Jahr 2000 in einer Stellungnahme einer Arbeitsgruppe von
Ärzten und Ärztinnen aus kommunalen Gesundheitsämtern als größtenteils überflüssig
und unberechtigt angegriffen. Darauf gestützt wollen viele Sozialämter mittlerweile nur
noch im Ausnahmefall eine Zulage für Sozialhilfebeziehende mit wenigen, besonders
schweren Krankheiten anerkennen. Doch mehrere Entscheidungen niedersächsischer
Verwaltungsgerichte bestätigen: Diese Kürzungen sind nicht durch das BSHG gedeckt.
Sozialhilfebezieherinnen, die an der Zuckerkrankheit, Diabetes mellitus Typ1 und Typ 2a,
oder an verschiedenen anderen (vor allem Stoffwechsel-) Krankheiten leiden, haben weiter
Anspruch auf eine Krankenkostzulage.
Für welche Krankheitsbilder ein Mehrbedarf bewilligt wird,
und wie hoch die Pauschale für diese Krankenkostzulage sein soll, darüber befindet seit
langem der Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge (im
folgenden nur noch Deutscher Verein genannt). Der Deutsche Verein
ist ein Zusammenschluss kommunaler Interessenvertreterinnen aus dem Sozialbereich mit
Vertreterinnen von Wohlfahrtsverbänden, u.ä. Nach den Empfehlungen der Experten dieses
Vereins, die dazu medizinische und ernährungswissenschaftliche Literatur heranziehen,
sollen die Sozialämter beispielsweise Personen mit erhöhtem Wert an Blutfetten, die eine
spezielle cholesterinarme Kost benötigen, 35,79 Euro; Zulage zum allgemeinen
Sozialhilfe-Regelsatz zahlen. Bei Alterszucker (Diabetes mellitus, Typ 2a) empfiehlt der
Deutsche Verein dagegen einen Mehrbedarfszuschlag von 51,13 Euro; und
für Patienten mit Neurodermitis z.B. eine Zulage von 25,56 Euro; (s. auch Tabelle).
An den Empfehlungen des Deutschen Vereins
orientieren sich normalerweise auch die Sozialämter und die Rechtsprechung. In Zeiten der
starken Umverteilung von unten nach oben rücken daher auch solche Empfehlungen verstärkt
in das Blickfeld kommunaler Interessenvertreterinnen. Im Jahr 1997 entdeckten die Experten
des Deutschen Vereins so wundersamer Weise, dass die Vollkost, welche z.B.
Krebskranke und an Multipler Sklerose Erkrankte benötigen, gegenüber den Vorjahren
plötzlich billiger geworden war. Statt über 100 DM hielten sie somit nur noch
50 DM an Mehrkosten für die betroffenen Krebs- und MS-Kranken gegenüber der
Ernährung Gesunder für notwendig.
Schmalkost und Linsengericht
Nach Auffassung kommunaler Kürzungsprofis berücksichtigt
diese 1997 vom Deutschen Verein entwickelte Schmalkost für eine Reihe von
Krankenkostzulagen jedoch offenbar noch immer nicht ausreichend die Revolutionierung
medizinischer Erkenntnisse im Bereich der Diätkosten in den letzten Jahren. Denn, wie
eine Arbeitsgruppe von ärztlichen Bediensteten kommunaler Gesundheitsämter in einem
Gutachten (im folgenden: "Begutachtungsleitfaden") für den Landschaftsverband
Westfalen-Lippe herausgefunden hat , habe die Ernährung bei einer Reihe von Krankheiten
keine wissenschaftlich nachweisbaren Auswirkungen: Z.B. bei Krebserkrankungen oder bei
Neurodermitis. Frühere, anders lautende Erkenntnisse seien nach Ansicht der
amtsärztlichen Leuchten nicht haltbar. Die den "Begutachtungsleitfaden"
herausgebenden Sozialdezernenten von Westfalen-Lippe bräuchten in ihren Städten und
Gemeinden den daran Erkrankten den bisher gezahlten Mehrbedarfszuschlag nicht länger zu
zahlen.
Bei anderen Krankheiten, etwa bestimmten entzündlich
Darmerkrankungen, reiche eine ausgewogene Mischkost unter Berücksichtigung, d.h.
Weglassen, von unverträglichen Nahrungsmitteln, wodurch kein erhöhter
Kostenaufwand entstehe. Solches gelte auch beispielsweise für Zuckerkranke,
Übergewichtige und Personen mit hohen Werten von Blutfetten, deren Gesundheitszustand
sich durch Weglassen von z.B. allzu zuckerhaltigen Lebensmitteln, weniger Wurst und
Fleisch und durch eine Gewichtsabnahme deutlich verbessern könne. Mehrkosten seien mit
dieser Ernährungsumstellung aber nicht verbunden, zumal nach neuesten medizinischen
Erkenntnissen vom Kauf von häufig hohe Fett- und Energiewerte enthaltenden Diätprodukten
eher abzuraten sei.
Ausgewogene Mischkost nach dem Regelsatz
Diese Argumentationsmuster des
"Begutachtungsleitfadens" griff auch die Stadtverwaltung Oldenburgs gerne auf,
als es zu Beginn des Jahres 2003 vielen Betroffenen den Mehrbedarfszuschlag ersatzlos
strich. Der Leiter des Gesundheitsamtes, Herr Dr. Friedrichs, dozierte beispielsweise in
Bescheiden an betroffene Zuckerkranke, dass diese insbesondere durch eine
ausgewogene Mischkost sowie die Einhaltung eines normalen
Körpergewichtes eine bestmögliche Einstellung ihres Blutzuckers erreichen und
Probleme und Folgeerkrankungen vermeiden könnten. So genannte
'Diabetikerprodukte' seien dagegen nicht nur teurer, sondern auch aus
medizinischen Gründen wegen nachteiliger Auswirkungen nicht zu empfehlen. Dr.
Friedrichs kommt zu der Schlussfolgerung: Ein erhöhter Kostenaufwand kann bei
diesen Empfehlungen nicht erkannt werden. Im Gegenteil ist durch die Begrenzung des
Fleischkonsums eine Einsparung zu erwarten, da pflanzliche Nahrungsmittel in der Tendenz
preisgünstiger als tierische sind.
Nun ist schon die im Begutachtungsleitfaden und
bei Dr. Friedrichs mitschwingende Unterstellung, wonach der Sozialhilfe-Regelsatz eine
ausgewogene Ernährung durch 'normale Lebensmittel' ermögliche, vorsichtig ausgedrückt
unwissend und ignorant. Verschiedene wissenschaftliche Untersuchungen zeigen
beispielsweise, dass in unteren Einkommensschichten sowohl die Häufigkeit von
Erkrankungen als auch die Zahl der Sterbefälle in jüngeren Jahren höher ist als in den
oberen sozialen Schichten [1]. Dies liegt u.a. daran, dass insbesondere
Ernährungsbedingte Krankheiten mit vermindertem Einkommen zunehmen. Qualitativ
höherwertige Lebensmittel wie Gemüse, Obst und Milch sind etwa für
Sozialhilfebeziehende kaum zu finanzieren. Insbesondere in der Gummiwoche am
Ende des Monats, wenn das Geld fast aufgebraucht ist, bleibt die Küche oft kalt und die
Betroffenen leben dann z.B. von Tütensuppen und anderen Billigprodukten. Und der Druck
der als belastend empfundenen Lebenssituation führt außerdem eher etwa zu vermehrtem
Verbrauch von Süßigkeiten oder Alkohol, die z.B. zu Übergewicht führen können [2].
Gesundheitsgefahren durch Gutachten des Gesundheitsamts
Bei Diabetes handelt es sich außerdem um eine durch die
Schädigung der Bauchspeicheldrüse verursachte Stoffwechselkrankheit. Dabei führt der
Mangel an Insulin zu einer unzureichenden Blutzuckerverwertung und in der Folge auch zu
Störungen des körpereigenen Fett-, des Eiweiß- und des Mineralstoffhaushalts.
Diabetikerinnen sollten daher nach den Empfehlungen ärztlicher Fachleute eine
kohlehydrat- und Fettreduzierte Diät zu sich nehmen, die vor allem aus magerem Fleisch,
Fisch, Gemüse und Obst besteht. Diese Lebensmittel sind entgegen den Behauptungen
desBegutachtungsleitfadens und des Oldenburger Gesundheitsamtes aber sehr wohl
teurer als das normale Supermarktangebot, wie jeder weiß, der nicht von einem
Ärztegehalt leben kann. Medizinisch besonders empfohlen werden so z.B. kostenaufwändige
Vollkornprodukte, da sie den Blutzuckergehalt des Blutes nur in schonendem Tempo ansteigen
lassen und reich an Ballaststoffen, Vitaminen und Mineralien sind. Und nur in qualitativ
hochwertigen und dementsprechend teuren Lebensmitteln, vor allem frischem Obst und
Gemüse, sind so genannte sekundäre Pflanzenstoffe enthalten, die den
typischen Folgeerkrankungen von Diabetes wie Durchblutungsstörungen der Beine, der Augen
oder des Herzens vorbeugen können. Diese Lebensmittel sollten daher möglichst täglich
auf dem Speisezettel der Betroffenen stehen. Wie das aber alles zu finanzieren ist, wenn
man von der Sozialhilfe lebt, wird wohl das Geheimnis gefälliger Gutachten von sparsamen
Bediensteten kommunaler Gesundheitsämter bleiben.
Eine Reihe von Kranken und Behinderten in Niedersachsen
wollte jedenfalls die von ihren Sozialämtern verfügte Streichung der Krankenkostzulage
nicht hinnehmen. Sie haben gegen die entsprechenden Kürzungsbescheide Widerspruch und
dann auch Klage erhoben. Und mittlerweile zeichnet sich hier ein umfassender Erfolg für
all diejenigen ab, die die Flinte nicht ins Korn geworfen, sondern mit juristischer
Munition geladen haben.
Grün ist die Heide
So urteilte das Oberverwaltungsgericht (OVG) Lüneburg
beispielsweise, dass einem u.a. an erhöhten Blutfettwerten, Bluthochdruck, Neurodermitis
und Übergewicht erkrankten Mann 35,79 Euro; als Krankenkostzulage zu bewilligen sei
(Beschluss vom 14.11.2002; AZ: 4 ME 465/02). In einem anderen Fall
entschied es, dass entgegen der feinsinnigen Differenzierung im
Begutachtungsleitfaden - nicht nur akut AIDS-Kranken, sondern auch den
HIV-Infizierten, bei denen AIDS noch nicht ausgebrochen ist, ein Mehrbedarf für
kostenaufwändige Ernährung zustehe (OVG Lüneburg, Beschluss vom 7.10.2002
AZ: 12 ME 622/02).
Zur Begründung führte das OVG dazu aus, dass es die
Empfehlungen des Deutschen Verein nach wie vor für den allein gültigen
Maßstab dafür halte, ob bei Vorliegen einer ärztlich bestätigten Erkrankung nun ein
Mehrbedarf gezahlt werden müsse oder nicht. Dies schon deshalb, weil diese Empfehlungen
auf einer breiten Auswertung der wissenschaftlichen Veröffentlichungen beruhe, während
die fachliche Grundlage der Darstellung im Begutachtungsleitfaden unklar und
zweifelhaft sei. Zudem sei der Begutachtungsleitfaden nur von Ärzten
geschrieben worden, die ernährungswissenschaftliche Gesichtspunkte völlig ausgeblendet
hätten. Den gutachtenden Ärzten mangle es daher schlicht auch an der Fähigkeit, die
finanzielle Mehrbelastung von Kranken und Behinderten angemessen einzuschätzen.
Klagen statt wehklagen!
Die oben wiedergegebene Begründung lässt sich auch auf
allen anderen Fälle übertragen, in denen die Sozialämter Betroffenen einen Mehrbedarf
für kostenaufwändige Ernährung verweigern, obwohl die Empfehlungen des Deutschen
Vereins in diesem Fall eine Krankenkostzulage vorsehen also z.B. auch auf
Zuckerkranke und auf Personen mit Multipler Sklerose. Zudem folgen inzwischen auch untere
Verwaltungsgerichte der Rechtssprechung des OVG Lüneburg, wie es das z.B. vor kurzem das
Verwaltungsgericht Göttingen in seinem Urteil vom 24.6.2003 getan hat
(AZ: 2 A 2192/02). Betroffene, denen das Sozialamt trotz dieser eindeutigen
Rechtslage noch immer die notwendige Zulage verweigert, sollten sich dagegen deshalb
unbedingt mit Widerspruch und Klage zur Wehr setzen. Die Erfolgsaussichten dafür sind
günstig.
Anmerkungen:
[1] Vgl. dazu und zum folgenden z.B den Reader:
Suppenküchen im Schlaraffenland. Armut und Ernährung von Familien und Kindern in
Deutschland. Hannover: 2000; zu beziehen über einen der Herausgeber, die
Landesvereinigung für Gesundheit Niedersachsen e.V., Fenskeweg 2, 30165 Hannover.
[2] Wobei es symptomatisch für das gesellschaftliche
Problembewusstsein ist, wenn sich dann gewiss gut bezahlte Forscherinnen wie vor kurzem
geschehen u.a. an die Quer wenden und um Mithilfe bitten, weil sie Konzepte zur
Gesundheitsberatung und zur autoritativen Anleitung der Betroffenen zu besseren
Ernährungsverhalten entwickeln wollen. Die nahe liegende Idee, statt dessen insbesondere
eine nachhaltige Verbesserung der Einkommenssituation für die Betroffenen zu fordern, ist
dagegen auch in Kreisen von Wissenschaftlerinnen offenbar ein höchst exotischer Gedanke.
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