Sozialgericht Schleswig hebt widerrechtlich verhängte Sanktion gegen Empfänger von Arbeitslosengeld II wieder auf – Urteil vom 20. Mai 2010, Aktenzeichen S 3 AS 1163/06
Von Malte Kühnert
Mit rechtsstaatlich äußerst fragwürdigen Methoden hat die Arbeitsgemeinschaft Flensburg (ARGE) in der Vergangenheit anscheinend versucht, die Absenkung von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach § 31 SGB II (Zweites Buch Sozialgesetzbuch) herbeizuführen:
Im konkreten Fall wurden einem Leistungsempfänger in den Räumlichkeiten der vorgenannten ARGE am 8. März 2006 zwei bereits unterschriebene Blanko-Bescheide mit Rechtsbehelfsbelehrung über die Zuweisung in eine Arbeitsgelegenheit mit Mehraufwandsentschädigung (AGH) ausgehändigt, welche dieser anschließend bei der Beschäftigungs- und Qualifizierungsgesellschaft Flensburg mbH (bequa), dem Maßnahmeträger der AGH, abgeben sollte. Die Übergabe der beiden Ausfertigungen erfolgte am 13. März 2006.
Zum 19. Juni 2006 erhielt der Betroffene von der bequa die Aufforderung, dort erneut vorzusprechen, da eine AGH – umgangssprachlich auch häufig als „Ein Euro-Job“ bezeichnet – für den 21. Juni 2006 anstünde.
Bei dieser Vorsprache wurden die von der Ansprechpartnerin in der ARGE schon gut drei Monate zuvor unterzeichneten Blanko-Zuweisungsbescheide durch eine Mitarbeiterin der bequa Flensburg handschriftlich ergänzt, indem die – nicht näher beschriebene – Art der Tätigkeit, der nunmehr auf den 22. Juni 2006 verlegte Beginn und das voraussichtliche Ende derselben, der Ort und Träger der AGH, die Einsatzorte u.a. eingetragen wurden. Gleichzeitig sollte der Leistungsempfänger noch eine Vereinbarung sowie eine vorformulierte Einverständniserklärung über die „freiwillige“ Weitergabe seiner Daten unterschreiben, was er jedoch verweigerte.
Auf entsprechende Nachfrage des Betroffenen, wer die bequa überhaupt legitimiert hätte, die von der ARGE ausgegebenen Zuweisungsbescheide zu vervollständigen, weil bei dieser Vorgehensweise der Eindruck entstehen könne, dass unbefugt und somit rechtswidrig eine hoheitliche Tätigkeit ausgeführt worden wäre, konnte – oder wollte? – sich die Mitarbeiterin der bequa nicht äußern.
Die nunmehr ergänzten Bescheide, welche die anfangs erwähnten Rechtsbehelfsbelehrungen enthielten, erweckten beim Adressaten den Anschein, dass es sich um Verwaltungsakte handelte. Jedoch war die darin ausgewiesene einmonatige Frist zum Einlegen eines Widerspruchs zwischenzeitlich schon längst abgelaufen, weil die Zuweisungsbescheide bereits auf den Tag der Ausgabe bei der ARGE, folglich den 8. März 2006, datierten.
Bezüglich der Frage, welche Art der Tätigkeit konkret ausgeübt werden solle, weil in diesem Zusammenhang lediglich der Eintrag „Büroservice“ zu lesen war, wurde erwidert, dass dies viel besser in der AGH selbst erklärt werden könne.
Existiert in Flensburg womöglich ein „guter Draht“ zwischen Leistungs- und Maßnahmeträger?
Nachdem der Leistungsempfänger die Geschäftsräume der bequa am 19. Juni 2006 gegen 15.20 Uhr wieder verlassen hatte, dürfte durch den Maßnahmeträger umgehend telefonisch Mitteilung bei der ARGE gemacht worden sein, weil dort anschließend noch kurz vor Dienstschluss ein Schreiben aufgesetzt wurde, welches die Anhörung nach § 24 SGB X (Zehntes Buch Sozialgesetzbuch) zwecks beabsichtigter Absenkung des Arbeitslosengeldes II zum Gegenstand hatte. Dem Hilfebedürftigen wurde darin vorgehalten, durch sein Verhalten das Zustandekommen der Tätigkeit vereitelt zu haben.
Unter dem 21. Juni 2006 antwortete der Betroffene im Rahmen der vorerwähnten Anhörung, dass auf die „Kompetenz“ der ARGE vertraut sowie den Untersuchungsgrundsatz des § 20 SGB X verwiesen würde.
Trotz Kenntnis des Leistungsträgers über die vom eigenen Hause praktizierten Zuweisungsmethoden erfolgte mit Bescheid vom 4. Juli 2006 für die Monate August bis Oktober 2006 eine Absenkung der Regelleistung des Betroffenen um 30%. Gegen diese Sanktion wurde kurzfristig Widerspruch erhoben, erneut auf den Untersuchungsgrundsatz hingewiesen und die Hoffnung geäußert, dass es nicht notwendig werden möge, noch einen Aufhebungsantrag beim zuständigen Sozialgericht Schleswig (SG) stellen zu müssen.
Mit Bescheid vom 12. Juli 2006 wies die ARGE den zuvor eingelegten Widerspruch jedoch postwendend als unbegründet zurück, so dass der betroffene Leistungsempfänger schließlich als Ultima Ratio nur noch Klage erheben konnte.
Psychologischer Dienst der ARGE unterstellt dem Betroffenen anschließend die gerichtliche Auseinandersetzung als Ziel
Nachdem die Klageschrift am 17. Juli 2006 beim SG eingegangen war, kam es auf Betreiben der zuständigen Mitarbeiterin der ARGE, welche vorher schon die Blanko-Zuweisungsbescheide für die bequa ausgegeben hatte, am 1. August 2006 zu einer ärztlichen Untersuchung sowie einem Gespräch zwischen dem Hilfebedürftigen und einer hausinternen Psychologin des Leistungsträgers.
In der anschließend erstellten Protokollnotiz hielt diese u.a. fest, dass die gerichtliche Auseinandersetzung vom Betroffenen augenscheinlich nicht als letzter Ausweg im Konfliktfall, sondern als Ziel seiner Bemühungen betrachtet wird.
Wenn – insbesondere im Hinblick auf die augenscheinlichen Arbeitsweisen der ARGE – eine solche Aussage getroffen wurde, obwohl auch im vorliegenden Fall durch die Rücknahme der verhängten Sanktion das sozialgerichtliche Verfahren offensichtlich hätte vermieden werden können, drängt sich die Frage auf, wie die Psychologin zu dieser Auffassung gelangt sein mochte. Könnte der Grund vielleicht darin bestanden haben, dass der Leistungsempfänger seine Verfahren gegen die ARGE in den Tatsacheninstanzen regelmäßig ohne anwaltliche Vertretung führt, um sich fortzubilden? Womöglich ist diese Art der Fortbildung in Flensburg unerwünscht, zumal gewisse Arbeitsweisen offen zu Tage treten könnten:
Im Rahmen der von der Geschäftsführerin der ARGE eigenhändig unterzeichneten Klageerwiderung vom 24. August 2006 wurde als Anlage u.a. eine Kopie von einem der beiden nachträglich vervollständigten Zuweisungsbescheide bei Gericht eingereicht.
Dabei wurde die Position bezogen, dass die betreffenden Bescheide, welche tatsächlich erst am 19. Juni 2006 – und nochmals zur Erinnerung: damit eindeutig nach Ablauf der gesetzlichen Frist für die Einlegung eines Widerspruchs – durch die Mitarbeiterin der bequa ergänzt worden waren, eine rechtmäßige Grundlage für die verhängte Sanktion darstellten, weil der Leistungsempfänger keinen Rechtsbehelf dagegen eingelegt hätte und somit Bestandskraft eingetreten sei. Außerdem wäre es dem Betroffenen möglich gewesen, sich bei der erfolgten Vorsprache in den Räumlichkeiten der bequa zu informieren.
Leider wurde in diesem Zusammenhang nur „vergessen“, dem SG ohne Umschweife die kooperative Arbeitsweise mit dem Maßnahmeträger darzulegen. Somit bestand die Gefahr, dass bei Gericht der Eindruck hätte entstehen können, als wären sämtliche Eintragungen schon am 8. März 2006 in den Räumlichkeiten der ARGE erfolgt, obwohl zu diesem Zeitpunkt noch gar nichts Konkretes hineingeschrieben worden war.
Aus nahe liegenden Gründen hatte der Betroffene jedoch mit einem Zeugen Kopien der ursprünglich ausgegebenen Blanko-Zuweisungsbescheide vom 8. März 2006 gefertigt, bevor die Abgabe derselben fünf Tage später bei der bequa erfolgte. Diese Tatsache war der Beklagten anfänglich nicht bekannt. Nachdem die entsprechenden „Sicherungskopien“ dann überraschenderweise bei Gericht eingereicht werden konnten, ermöglichte dies der ARGE, eine bis dahin wohl nicht vorhandene Kenntnis darüber zu erlangen, dass die im eigenen Hause bereits mit Datum und Unterschrift versehenen sowie anschließend zur Übergabe an den Maßnahmeträger ausgehändigten Bescheide zum Zeitpunkt der Ausgabe offensichtlich doch noch (fast) keine Inhalte aufwiesen…
Die damalige Vorsitzende der 3. Kammer, welche im Jahre 2006 für das Verfahren zuständig war, erweckte jedoch eher den Eindruck, als bestünde die Aufgabe des angerufenen Gerichts vorrangig darin, sich mit den Ausdrucksfähigkeiten des Klägers in seinen Schriftsätzen, dafür aber umso weniger mit den sich herauskristallisierenden Arbeitsweisen der ARGE auseinander zu setzen, zumal wiederholt um eine Mäßigung des Tonfalls gebeten wurde. Äußerungen, mit denen u.a. die gemeinsam praktizierten Methoden von Leistungs- und Maßnahmeträger deutlich bezeichnet wurden, waren bei dieser Richterin allem Anschein nach unerwünscht.
Rechtskräftiges Urteil erst nach vier Jahren
In den Folgejahren wechselte während der auffallend langen Verfahrensdauer wiederholt der Vorsitz im vorgenannten Spruchkörper des SG. Schließlich wurde ein Richter zuständig, bei dem auch der Kläger noch das Gefühl bekam, dass der Prozess in der rechtsstaatlichen Form geführt werden sollte, wie es im Allgemeinen vom Bürger erwartet wird – und somit grundsätzlich losgelöst von der Frage, ob die Öffentlichkeit später womöglich Kenntnis über die rechtswidrigen Praktiken der ARGE erlangen könnte.
Am 20. Mai 2010 kam es zur mündlichen Verhandlung vor dem SG, wobei der Rechtsstreit nach ergänzenden Vorträgen der Beteiligten zur Sache durch Urteil beendet wurde:
Der nunmehr auch schriftlich vorliegenden Urteilsbegründung lässt sich u.a. entnehmen, dass die Voraussetzungen für eine Absenkung der Grundsicherungsleistungen nicht vorgelegen haben und die verhängte Sanktion aufgehoben wird:
1. Es ist zwingend erforderlich, dass der Leistungsträger – folglich die ARGE und nicht die bequa – die Art und die Bedingungen für eine angebotene Arbeitsgelegenheit festlegt. Geschieht dies nicht, so mangelt es an der notwendigen Bestimmtheit des Angebots, weil der Betroffene den Anspruch auf Eingliederung nicht gegenüber dem Maßnahme-, sondern eben nur gegenüber dem Leistungsträger hat.
2. Weiterhin ist es nicht ausreichend, fehlende Informationen zu einem späteren Zeitpunkt nachzuholen bzw. zu ergänzen. Bei der im vorliegenden Fall praktizierten Vorgehensweise bestehen außerdem erhebliche Zweifel der 3. Kammer des SG, dass ein einmal erlassener Verwaltungsakt durch einen privaten Maßnahmeträger im Nachhinein überhaupt ergänzt werden durfte.
3. Ein Verstoß gegen Treu und Glauben, auf den die ARGE (!) sich beruft, kann dem Kläger nicht entgegengehalten werden, selbst wenn eine persönliche Vorsprache beim Maßnahmeträger erfolgt ist.
4. Insbesondere liegen die Voraussetzungen des § 31 Abs. 1 Nr. 1 c SGB II in der bis zum 31. Juli 2006 geltenden Fassung nicht vor (Anmerkung des Verfassers: Korrekterweise hätte die ARGE hier wohl den § 31 Abs. 1 Nr. 1 d SGB II bezeichnen müssen, da es sich um eine AGH mit Mehraufwandsentschädigung handelte). Ob die damit fehlerhaft erteilte Rechtsfolgenbelehrung möglicherweise alleine schon ausgereicht hätte, kann aber dahinstehen, da es bereits an der notwendigen Bestimmtheit der AGH mangelt, um eine Sanktion begründen zu können.
Eine Kopie des – inzwischen rechtskräftigen – Urteils vom 20. Mai 2010 kann gegen Unkostenerstattung beim SG Schleswig unter Angabe des Aktenzeichens S 3 AS 1163/06 angefordert werden.
Schlussbemerkungen:
Die vorstehend beschriebene Zuweisungspraxis, zu der das SG Schleswig leider nur „erhebliche Zweifel“ geäußert und keine deutlicheren Worte gefunden hat, ist nach Kenntnisstand des Verfassers zumindest in der Vergangenheit kein Einzelfall gewesen. Aus diesem Grunde kann (früheren) Leistungsempfängern, denen bis heute vielleicht gar nicht bewusst gewesen sein könnte, welch perfide Methoden Leistungs- und Maßnahmeträger in Flensburg angewandt haben, nur dringend empfohlen werden, sich bei unzureichenden Kenntnissen in Bezug auf rechtliche Vorgehensweisen anwaltlicher Hilfe zu bedienen, falls im Hinblick auf die eigene Zuweisung in eine Arbeitsgelegenheit gewisse Ähnlichkeiten (z.B. die Vorgabe der ARGE, zwei Bescheide beim Maßnahmeträger abzugeben) erblickt werden können. Die Inanspruchnahme sollte jedoch sehr zügig erfolgen, um ggf. noch über einen Überprüfungsantrag nach § 44 SGB X gegen eine evtl. widerrechtlich verhängte Sanktion – insbesondere im Jahre 2006 – vorzugehen. Offene Fragen zum jeweiligen Einzelfall dürfen ebenfalls nur im Rahmen einer anwaltlichen Beratung beantwortet bzw. geklärt werden.
Abschließend noch ein Auszug aus der von der ARGE veröffentlichten Pressemitteilung Nr. 1 des Ausgabejahres 2007 vom 11. Januar 2007, welche in Zusammenhang mit dem zuvor abgelaufenen Geschäftsjahr 2006 ausgegeben wurde:
>> „Wir haben im vergangenen Jahr einen guten Job gemacht“, zieht Claudia R., Geschäftsführerin der Arbeitsgemeinschaft (ARGE) Flensburg, Bilanz.
Monat für Monat sank die Zahl der Bedarfsgemeinschaften, also die Zahl der Bezieher von Arbeitslosengeld II, im Stadtgebiet Flensburg. „Auch im Vergleich mit den anderen kreisfreien Städten in Schleswig-Holstein schneiden wir gut ab und liegen mit der positiven Entwicklung weit über dem Bundestrend“, freut sich R. Denn „hinter jeder Bedarfsgemeinschaft verbergen sich menschliche Schicksale und uns liegt sehr viel daran, dass unsere Klienten ihr Leben wieder selbst in die Hand nehmen können.“
…
„Ich bin zuversichtlich, dass die Zahl der Bedarfsgemeinschaften auch in diesem Jahr weiter sinken wird“, blickt R. optimistisch in die Zukunft. <<
Die von der Geschäftsführerin erwähnte positive Entwicklung weit über dem Bundestrend setzt sich – wenn auch in einem anderen Geschäftsbereich – anscheinend auch gegenwärtig fort:
Mit Blick auf einen am 5. August 2010 in der Tagespresse der Fördestadt veröffentlichten Artikel unter der Überschrift „Mehr Strafen für Hartz IV-Empfänger“, in welchem u.a. darauf hingewiesen wurde, dass „unwillige“ Leistungsbezieher in den ersten drei Monaten des Jahres 2010 im Bundesdurchschnitt 125 Euro pro Monat an Einbußen hinnehmen mussten, kann allen Leserinnen und Lesern nur nahe gelegt werden, kritisch zu hinterfragen, weshalb ausgerechnet die ARGE Flensburg beim dortigen Ranking mit 170 Euro monatlich einen außergewöhnlich hohen Kürzungsbetrag vorweisen und damit anscheinend eine Spitzenposition belegen konnte.
Es sind dabei selbstverständlich keine Grenzen gesetzt, sich vorzustellen, welche „arbeitsmarktpolitischen Instrumente“ in diesem Zusammenhang zur Anwendung gekommen sein könnten…
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