Kinderarmut: Weniger Essen durch Hartz IV

rainerrothvon Prof. Rainer Roth, Frankfurt am Main

Eine erfreuliche Mitteilung. Die SPD/CDU Bundesregierung tut etwas gegen Kinderarmut. Mit der Anhebung des Regelsatzes ab 1.Juli 2007 um 2 Euro mtl. stieg der im Regelsatz von Schulkindern bis 14 Jahren enthaltene Anteil für die Ernährung von 2,27 auf 2,28 Euro pro Tag. Der Aufschwung ist auch bei Hartz IV-EmpfängerInnen angekommen. 
Wer aber weiß schon, dass 1987 im Regelsatz eines 12-jährigen Schulkindes noch 2,90 Euro für Essen und Trinken enthalten waren? Die herrschenden Parteien haben Kindern und ihren Eltern nach und nach in erheblichem Umfang Mittel für Essen und Trinken entzogen. Ernährungsanteil bei ErwachsenenDer Regelsatz eines alleinstehenden erwachsenen Sozialhilfebeziehers betrug 1987, also vor 20 Jahren, im Bundesdurchschnitt (umgerechnet) 203 Euro (398 DM). Damals galt: 57% dieses Betrags, d.h. 116 Euro oder 3,87 Euro am Tag entfielen auf Ernährung. Ab Juli 2007 sind es noch 3,81 Euro. Mit dem annähernd gleichen Betrag kann man sich aber nur noch 20% weniger Lebensmittel kaufen, da die Lebensmittelpreise in diesem Zeitraum um 20% gestiegen sind.

Warum 57%?
Seit Anfang der 70er Jahre wurden die Regelsätze auf der Basis von Warenkörben festgelegt. Die Ernährungsausgaben für Erwachsene beruhten auf Berechnungen, wie ein durchschnittlicher Kalorienbedarf von Erwachsenen von 2250 Kalorien pro Tag zu befriedigen wäre. Sie betrugen rd. 57% des damaligen Eckregelsatzes.

Seit dem Ende der 80er Jahre galt als Maßstab für die anerkannten Ernährungsausgaben nicht mehr, wieviel jemand für eine halbwegs befriedigende Ernährung angeblich braucht, sondern was die unteren Verbrauchergruppen der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) tatsächlich dafür ausgeben. Das war weniger als die kärglichen Beträge, die vorher zugestanden wurden.

Ernährungsanteil bei Schulkindern
Noch krasser war die Entwicklung bei den Kinderregelsätzen.
Die Prozentsätze der Kinderregelsätze und die Einstufung in Altersklassen orientierten sich mit der Einführung von Warenkörben Anfang der 70er Jahre vor allem am Kalorienverbrauch. Sie betrugen z.B. wegen des steigenden Energieverbrauchs für 8-11 jährige 65% und für 12-15-jährige 75% des Eckregelsatzes, für 16-21 jährige 90%. (Regelsatzverordnung vom 10.07.1971 nach Käthe Petersen, Die Regelsätze nach dem BSHG, Frankfurt 1972, 52) Das galt bis 1990.
Ein 12-jähriges Schulkind hatte auf dieser Grundlage im Jahre 1987 noch 87 Euro mtl. oder 2,90 Euro täglich zur Verfügung, ein zehnjähriges Schulkind 75 Euro bzw. 2,51 Euro.
Ab Juli 2007 sind davon noch 2,28 Euro übrig geblieben.

Würden die damaligen Prozentsätze vom Eckregelsatzes heute noch bestehen und wäre die Steigerung der Lebensmittelpreise um 20% berücksichtigt worden,
müsste der Ernährungsanteil eines 12-jährigen Schulkindes heute nicht 2,28 Euro, sondern 3,48 Euro pro Tag betragen. Die zugestandenen Mittel für Essen und Trinken von Schulkindern aus Armutsfamilien sind also real um 1/3 gekürzt worden.
Das muss bekannt gemacht werden!

Hartz IV und Ernährung
Der Großteil der Kürzungen erfolgte mit Hartz IV.
2004 standen für 7-14 jährige noch 2,82 Euro pro Tag für Nahrungsmittel und nicht-alkoholische Getränke zur Verfügung, ab 1.Juli 2007 nur noch 2,28 Euro. Gegenüber 2004 wurde Schulkindern unter 14 Jahren durch Hartz IV 20% des Geldes für Essen und Trinken entzogen.

Zwei Dinge haben dazu beigetragen.
1) Die unteren Verbrauchergruppen geben aufgrund niedrigerer Einkommen in der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) 2003 weniger Geld für Ernährung aus als in der EVS 1998. Also bekommen auch Schulkinder seit Juli 2006 weniger, seit nämlich der Eckregelsatz auf der Basis der neuen EVS 2003 neu festgesetzt wurde. Die ab 1990 geltende Festsetzung des Regelsatzes auf der Basis der tatsächlichen Ausgaben der Armutsbevölkerung entfaltet ihr zerstörerisches Werk.
2) Dazu noch wurde mit Hartz IV der Anteil der Schulkinder unter 14 Jahren am Eckregelsatz von 65 auf 60% abgesenkt. Damit fielen die anerkannten Ausgaben für Essen und Trinken ebenfalls.
Mit Einführung der Regelsatzbemessung auf der Grundlage der EVS, also ab 1990, waren die Regelsätze für Schulkinder von 12-15 Jahren bereits von 75 auf 65% abgesenkt worden.

Hartz IV – Nicht-Anerkennung des Wachstums- und Schulbedarfs von Schulkindern unter 14 Jahren
V
or Hartz IV waren die Regelsätze von Schulkindern von 7 bis 14 Jahren 30% höher als die von Säuglingen, bei Alleinerziehenden 20%. Seit 2005 jedoch setzen SPD/Grüne/CDU und FDP den Bedarf von Schulkindern unter 15 mit dem von Säuglingen gleich.

Noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik wurde verfügt, dass der Bedarf von Schulkindern bis 14 Jahren mit dem Bedarf von Säuglingen gleich zu sein habe. Das blieb den Parteien vorbehalten, die jeder für sich selbst die Goldmedaille für Kinderfreundlichkeit umhängen.

Die Regelsätze von Schulkindern bis 14 waren in den 60er Jahren 50% höher als die von Säuglingen. (Heinrich Bürgel, Sozialhilferecht, Berlin 1966, 118)
In den 70er und 80er Jahren waren sie 45 bzw. 66% höher als die von Säuglingen. (Käthe Petersen, Die Regelsätze nach dem BSHG, Frankfurt 1972, 52)
Ende der 80er Jahre wurde 11 bis 14-jährigen Kindern der höhere Bedarf gegenüber 7 bis 10-jährigen aberkannt. (Blätter für Wohlfahrtspflege 4/90, 118) Damit sollte kompensiert werden, dass der Eckregelsatz mit Einführung des Statistik-Modells ab 1990 erhöht werden musste. Gleichzeitig wurde aber der Regelsatz von Kindern unter 7 auf 50% bzw. 55% bei Alleinerziehenden erhöht.
Schulkinder bekamen also in den 90er Jahren bzw. bis Hartz IV bis zu 30% mehr als Säuglinge.
Hartz IV hat damit Schluss gemacht.
Der Regelsatz von Säuglingen und Vorschulkindern wurde von 50 bzw. 55% auf 60% angehoben, der von Schulkindern unter 14 auf 60% gesenkt. Die Anhebung des Regelsatzes für Kleinkinder und Vorschulkinder könnte damit zusammenhängen, dass der Eckregelsatz schon ab der Krise 1975, besonders aber ab der Krise 1992/93 und dann wieder mit Einführung von Hartz IV mit voller Absicht hinter der Steigerung der Lebenshaltungskosten und der Veränderung der Bedürfnisstrukturen zurückgehalten wurde. Damit wurde natürlich auch das Bedürfnisniveau aller Kinder beschnitten.
Möglicherweise wollte man das Interesse, die Regelsätze real zu senken, wenigstens bei Kindern unter 7 Jahren nicht voll durchreichen.
Aber: Was Säuglingen und Vorschulkindern gegeben wurde, wurde Schulkindern genommen. Und das auch noch im Namen der Gerechtigkeit.
Alle Untersuchungen zeigen, dass die Verbrauchsausgaben von Schulkindern höher sind als die von Kleinkindern und Vorschulkindern. (zuletzt Margot Münnich, Einkommensverhältnisse von Familienhaushalten und ihre Ausgaben für Kinder, Wirtschaft und Statistik 6/2006, 654)
Die mit dem Alter von 6 Jahren steigenden Ausgaben haben eine reale Grundlage. Sie spiegeln u.a. wieder,
* dass der tägliche Nährstoffbedarf zunimmt, je älter die Kinder werden. Mit dem Alter wachsen sie nämlich.
* dass die Mobilität und damit Freizeitausgaben größer werden und
* dass der Bedarf an Kleidung und Schuhen wächst, je größer die Kinder werden.

Der höhere Wachstumsbedarf von Kindern ab 6 Jahren wird seit Einführung von Hartz IV per Gesetz nicht mehr anerkannt.
Im SGB II wurde ab August 2006 ausdrücklich verankert: "Die nach diesem Buch vorgesehenen Leistungen decken den Bedarf der erwerbsfähigen Hilfebedürftigen und der mit ihnen in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen. Eine davon abweichende Festlegung der Bedarfe ist ausgeschlossen." (_ 3 Abs. 3 SGB II)
Der Wachstumsbedarf ist aber auch dann nicht gedeckt, wenn Merkel, von der Leyen, Müntefering und der Deutsche Bundestag es per Gesetz verfügen. Der biologisch bedingte Wachstumsbedarf lässt sich nicht in Eigenverantwortung vermeiden. Oder rät die Große Koalition den Schulkindern, möglichst nicht zu wachsen und sich den politischen Vorgaben anzupassen?

Dazu kommt, dass mit Einführung von Hartz IV auch die Schulkosten, die vorher über einmalige Beihilfen beantragt werden konnten, nicht mehr im Regelsatz enthalten sind.
Regelsatz plus Einmalige Beihilfen beliefen sich für Sozialhilfe beziehende Schulkinder bis 14 Jahren im Jahr 2004 zusammen auf 232 Euro mtl.. (193 Euro Regelsatz plus 20% des Regelsatzes für Einmalige Beihilfen; vgl. Roth/Thomé, Leitfaden Alg II/ Sozialhilfe von A-Z, Frankfurt 2006, 236) Im Betrag von 232 Euro waren die anerkannten Schulkosten enthalten.
Heute sollen Schulkinder mit nur 208 Euro das abdecken, wofür sie vorher 232 Euro hatten. Wie können Schulkosten noch in einem Betrag enthalten sein, der niedriger ist als vor Einführung von Hartz IV?
Supermutter von der Leyen behauptete in einem Brief an die Koordinierungsstelle gewerkschaftlicher Arbeitslosengruppen (KOS) , dass die Schulkosten auf jeden Fall im Regelsatz enthalten seien. Mit welchem Betrag, sagte sie nicht. Man müsse eben vor Schuleintritt oder während des Schuljahres diese (unbekannten) Beträge aus dem Regelsatz ansparen.
Nebelwerfer anschalten, um zu vertuschen, was man tut und welche Ziele man hat, gehört zum Alltagsgeschäft von Ministern der herrschenden Klasse.

Schulkosten können allein deswegen schon nicht im Regelsatz enthalten sein, weil der Regelsatz mit Schuleintritt auf Grund der höheren Kosten für die Schule steigen müsste, es aber nicht tut.
Nach Berechnungen des Münchener Vereins "Einspruch" fallen z.B. dafür im ersten Schuljahr rd. 550 Euro oder etwa 50 Euro im Monat an. Die Beträge sind zusammen mit Lehrern ermittelt worden. Im dritten Schuljahr sind es immerhin noch 250 Euro jährlich (20 Euro pro Monat), im vierten rd. 30 Euro im Monat. (Süddeutsche Zeitung O2.07.2007)

Schulkosten sind wegen der Schulpflicht nicht vermeidbar. Sie führen zu einem Druck auch auf die mickrigen Ernährungsausgaben. Alles muss vom Munde abgespart werden. Mit Schuleintritt sinken also die ohnehin gekürzten Regelsätze von Schulkindern real am stärksten. So begrüßt der "Sozialstaat" die Kinder von Hartz IV-Familien bei Schuleintritt mit der unübersehbaren Mißachtung ihrer Grundbedürfnisse. Das ist Ausdruck eines tiefgehenden Desinteresses an einem bedeutenden Teil der Kinder.
Immerhin lebten Ende 2006 in Frankfurt offiziell 23,2% der Kinder unter 15 auf dem von den politischen Parteien des Christentums und sogenannten sozialen Demokraten verordneten Elendsniveau. Ein Jahr vorher waren es erst 21%. Kinderarmut im Aufschwung. Das liberale Frankfurt bringt es nicht einmal fertig, wie München 100 Euro Einschulungskosten für Hartz IV-Kinder zu zahlen, obwohl auch das nicht reicht.

Hartz IV – Nicht-Anerkennung des Wachstumsbedarfs von 15 bis 18-jährigen
Heranwachsende haben einen besonderen Bedarf. Deswegen werden ihnen seit vielen Jahrzehnten 3.100 Kilokalorien an täglichem Energiebedarf zugerechnet, Erwachsenen erheblich weniger.
Da das Wachstum noch nicht abgeschlossen ist, besteht auch ein höherer Bedarf an Kleidung, Schuhen usw. als bei Erwachsenen. Es blieb den Hartz IV – Parteien vorbehalten, das nicht mehr anzuerkennen.
In der ganzen bisherigen Geschichte der Nachkriegszeit betrug (mit einigen Variationen) der Regelsatz von Heranwachsenden bis zum Alter von 18 Jahren 90% des Eckregelsatzes, der von Erwachsenen dagegen 80%. Seit 2005 jedoch werden Heranwachsende von ihrem Bedarf her zu Erwachsenen erklärt. Welche Ehre.
Heranwachsende müssen jetzt ihr Wachstum in Eigenverantwortung bewältigen. Warum wachsen sie auch? Sollte es sich bei dieser Art von Sozialabbau um ein Stück Befreiung aus staatlicher Bevormundung handeln?

Die ruhmreichen Regierungsparteien und Frau von der Leyen weisen die Natur in ihre Schranken. Sie erklärten nach der Einführung von Hartz IV im Nationalen Aktionsplan für ein kindergerechtes Deutschland vom Juni 2006:" Die Sicherstellung eines angemessenen Lebensstandards für alle Kinder ist ein zentrales politisches Anliegen der Bundesregierung." (S. 60) Offensichtlich hält die Bundesregierung die neu eingeführte Nichtanerkennung des Wachstums- und Schulbedarfs von Schulkindern aus Hartz IV-Familien für "angemessen". Sie zeigt ihre Verachtung aber nicht offen, weil sie wenigstens noch die Wählerstimmen der Betrogenen einfangen will.

Interesse an Ernährung von Hartz IV-KindernDas Interesse an Kinderarmut ist seit Ende des letzten Jahres größer geworden. Selbst der DGB hat das Thema entdeckt. Typisch ist aber bis jetzt, dass zwar die Kürzung der Regelsätze für Schulkinder kritisiert wird, die Hartz IV-Parteien aber in der Regel nicht mit der Frage konfrontiert werden, warum sie das getan haben. Das machen weder DGB und Wohlfahrtsverbände, aber auch häufig die Erwerbslosengruppen nicht, die gegen Kinderarmut kämpfen. Mit dieser Art von Rücksichtnahme auf SPD und CDU muss Schluss sein.
Wir haben einen entsprechenden Brief an die Bundesregierung geschrieben, aber noch keine Antwort erhalten. SPD und Grüne antworteten, aber nicht auf unsere Frage. Die Christlich-Demokratischen Arbeitnehmer (CDA) erklärten, es wäre schon ein Problem, aber wir sollten berücksichtigen, dass für Hartz IV eh schon zu viel Geld ausgegeben wird. Hungern für den Staatshaushalt bzw. für die massiven Senkungen der Gewinnsteuern.

Erfreulicherweise hat die Arbeit des Rhein-Main-Bündnisses gegen Sozialabbau und billiglöhne (RMB) dazu geführt, dass die Fraktion der Linkspartei im Bundestag in einer kleinen Anfrage an die Bundesregierung vom 14.06. 2007 einige unserer Fragen aufgegriffen hat, z.B. die warum die Kinderregelsätze gekürzt wurden und warum Schulkinder jetzt denselben Bedarf haben wie Säuglinge. Eine Antwort steht noch aus.

Mittagessen
Die jetzige Diskussion um die Kinderregelsätze entzündete sich nicht daran, dass sie mitsamt ihres Ernährungsanteils massiv gesenkt worden sind, sondern vor allem am Mittagessen in ganztätig betriebenen Schulen.
Ein Berliner Schulleiter erklärte am 28.06.2007 in der Sendung Kontraste in der ARD, dass oft nur ein Drittel der Kindern von Ganztagsschulen am gemeinsamen Mittagessen teilnehmen, Dann gäbe es noch die Kinder, die etwas von zu Hause mitbringen und "die Kinder, die schlichtweg hungern." Allerdings gibt es in Berlin keinen staatlichen Zuschuss, weil Berlin kein Geld dafür hat. 32 Millionen für den Neubau des Berliner Schlosses bereitzustellen, ist für SPD und ihren Satelliten Linkspartei wichtiger.

Das Problem ist seit 2005 bekannt. Reaktionen von Landesregierungen auf diesen Zustand gibt es seit Mitte bis Ende 2006. Im Saarland und in Rheinland-Pfalz schießen Land und Kommunen den Betrag für das Mittagessen zu, der einen Euro übersteigt. Allerdings sind im Regelsatz nur 79 Cent für ein Mittagessen enthalten. 21 Cent pro Schultag werden also zu viel abgezogen bzw. über 4 Euro im Monat. Der Regelsatz eines Schulkindes unter 14 Jahren wird also durch diese Hilfe um rd. 2% gekürzt. Das Interesse an Regelsatzkürzung setzt sich auch über Hilfen durch.
In Frankfurt hat OB Petra Roth ebenfalls angekündigt, aus kommunalen Mitteln einen Zuschuss zum Mittagessen zu zahlen. Allerdings lässt sich der Magistrat Zeit. Zeit ist bekanntlich Geld. Erst nach den Sommerferien soll eine Entscheidung fallen.
Andere wiederum setzen auf Privatinitiative. In NRW will die CDU mit 400.000 Euro Privatinitiativen fördern. In Bochum wurde mit einer Spende der Sparkasse in Höhe von 200.000 Euro ein "Verein zum Ausgleich sozialer Härten" gegründet, aus dem vor allem die Mittagsverpflegung mit 130.000 Euro bezuschusst wird.
Schulen zahlen das Mittagessen für arme Kinder auch aus Spenden von Eltern oder LehrerInnen, aus Lieferungen von Tafeln, oder aus höheren Preisen für die zahlenden Kinder.
Der Staat kürzt die Essensrationen und die Kürzungen werden, wenn möglich, mit privaten Spenden für einen Teil der Betroffenen abgemildert. Hier findet eine Art versteckte Privatisierung des Regelsatzes statt.

Unseres Erachtens wäre am besten ein kostenloses Mittagessen für alle Schulkinder (und Kindergartenkinder), ebenso ein kostenloses Schulfrühstück. Akzeptabel ist noch eine Beteiligung in Höhe der im Regelsatz vorgesehenen Beträge. Da das leichter durchzusetzen ist, hat sich das Rhein-Main-Bündnis darauf konzentriert.

Hartz IV-Kinder haben zehn Cent, um mittags ein Getränk zu bezahlen. Wir haben deshalb über die Stadtverordnetenfraktion "Die Linke" angeregt, dass an Frankfurter Schulen Wasserautomaten aufgestellt werden, aus denen man kostenlos Wasser entnehmen kann. Das scheint beim Bildungsdezernat auf Zustimmung zu stoßen.

Gesunde Ernährung
Das Problem liegt aber wesentlich tiefer als beim Mittagessen. Es liegt in der Höhe des Regelsatzes selbst und u.a. der Frage, ob damit eine gesunde Ernährung möglich ist.
Selbst wenn das Mittagessen mit Beträgen über 0,79 Cent hinaus bezuschusst würde, wie es sieht aus mit Getränken, mit Frühstück, Pausenbrot, Nachmittagsnack und Abendessen? Kinder sollen nach Meinung des Forschungsinstitus für Kinderernährung in Dortmund 5 Mahlzeiten am Tag zu sich nehmen, nicht drei, wie es die Bundesagentur für Arbeit zulässt.
Deshalb ist die Grundfrage, ob eine gesunde Ernährung mit Hartz IV überhaupt möglich ist.
Mathilde Kersting vom Forschungsinstitut für Kinderernährung erklärte in der Kontraste-Sendung:" Nach den Budgets, die es heute für Hartz IV-Familien gibt, ist es nicht möglich, die Kinder gesund zu ernähren."
Auf eine Nachfrage verwies sie darauf, dass demnächst eine entsprechende Untersuchung veröffentlicht wird. Allerdings gibt es schon eine Untersuchung aus dem Jahr 2004, deren Ergebnisse sich nicht grundsätzlich von denen der neueren Untersuchung unterscheiden.
Es wurden folgende Lebensmittelkosten für die empfohlene Ernährung gesunder Kinder ermittelt, umgerechnet pro Tag.

7-9 Jahre      4,50 Euro pro Tag (Hartz IV heute: 2,28 Euro)
10-14 Jahre   5,50 Euro pro Tag (Hartz IV heute: 2,28 Euro)
15-18 Jahre   6,50 Euro pro Tag (Hartz IV heute: 3,05 Euro)

Der doppelte bzw. mehr als der doppelte Betrag als der in den Regelsätzen für Schulkinder vorgesehene Betrag wäre also für eine gesunde Ernährung notwendig. Diese Beträge wurden im Frühjahr 2004 auf der Grundlage von durchschnittlichen Lebensmittelpreisen in Dortmunder Supermärkten, Discountern und auch Bioläden ermittelt. (S. Peul, Finanzielle Belastung durch diätetische Behandlung der Phenylketonurie, Monatsschrift Kinderheilkunde, 12/2004, 1336-1337)

Umgerechnet auf den Monat würde sich allein daraus eine Regelsatzerhöhung auf rd. 300 Euro bei Schulkindern unter 14 Jahren ergeben.
Eine gesunde Ernährung für über 19 jährige wurde mit 195 Euro veranschlagt. Im Regelsatz enthalten sind aber nur (seit Juli 2007) 114,23 Euro. Hier fehlen 81 Euro. Unsere Regelsatzforderung von mindestens 500 Euro wird durch diese in einer Fachzeitschrift versteckte Untersuchung noch einmal untermauert.

Regelsatzanteil für Ernährung: eine Fiktion
Die im Regelsatz anerkannten Ausgaben sind aber letztlich fiktive Beträge, weil sie den realen Ausgaben der Hartz IV-Empfänger für Ernährung nicht entsprechen. Gerhard Trabert wies neulich darauf hin, dass "aus diesen Budget (für Ernährung) … häufig andere, nicht aufschiebbare Kosten … finanziert" werden. (Kinderarmut und Gesundheit: wie macht Armut Kinder krank? Vortrag 21.02.2006 in Halle; http://www.fes.de/Magdeburg/pdf/21_2_6_2.pdf )

Eine Untersuchung des Kölner Instituts für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik ergab schon für 1983, dass SozialbezieherInnen im Schnitt 40% weniger für Ernährung ausgaben als im Warenkorb vorgesehen, dafür aber erheblich mehr für Strom, für Instandhaltung und Anschaffungen sowie für Persönliche Bedürfnisse, z.B. Telefongespräche, Verkehrsmittel usw.. (Regelsatz und Warenkorb in der Sozialhilfe, Stuttgart 1985) Ursache dafür waren auch die Rückzahlung von Schulden oder Unterhaltsverpflichtungen. (Rainer Roth, Über den Monat am Ende des Geldes, Frankfurt 1992)

In einer Befragung von 96 Hamburger SozialhilfebezieherInnen im Jahre 1994 ergab sich, dass etwa drei von vier Personen weniger als die im Hamburger Regelsatz enthaltenen Ernährungsanteile ausgaben. (Petra Rattay, Kulturelle und soziale Folgen von verwalteter Armut am Beispiel von Hamburg St. Pauli, Diplomarbeit, Dortmund 1995, 125)
Das Sozialministerium von Baden-Württemberg stellte für 1998 fest, dass ein dreiköpfiger Sozialhilfehaushalt damals nur 50% des offiziellen Ernährungsanteils für Ernährung verwandte. (Kindergesundheit in Baden-Württemberg, April 2000, 27; vgl. auch Rainer Roth, Sozialhilfemissbrauch, Frankfurt 2004, 22)

Neuere Untersuchungen gibt es nicht. Sie wären dringend notwendig. Wir sollten sie fordern.
Hartz IV besteht aus einem verwinkeltem, ausgeklügelten System nicht anerkannter notwendiger Ausgaben. Es soll insgesamt dazu führen, dass der Regelsatz mitsamt seinem Ernährungsanteil wenigstens real gesenkt wird, wenn er schon nicht offen gesenkt werden konnte.

Beispiele:
* Ein Konto wird vorausgesetzt. Die Kontogebühren betragen mtl. 5-6 Euro. Im Regelsatz sind aber nur 1,02 Euro enthalten.
* Die im Regelsatz enthaltenen Stromkosten betrugen 1998 in der alten Sozialhilfe noch 26,31 Euro. Seither sind die Stromkosten um etwa 27% gestiegen. 2006 müssten also 33,36 Euro anerkannt werden. Im Regelsatz sind aber nur 21,74 Euro enthalten.
(Helga Spindler, Allein der notwendige Anteil für Energiekosten im Regelsatz für 2006 war um ca. 150 Euro zu niedrig, info also 2/2007, 62)
* In vielen Fällen werden Warmwasserkosten in Höhe von 15-20% der Heizkosten vom Regelsatz abgezogen, obwohl die Warmwasserkosten damit den Großteil der im Regelsatz enthaltenen Stromkosten auffressen. Sie machen aber allenfalls 20% der anerkannten Stromkosten aus.
* Bei mehr als der Hälfte der Haushalte werden unter dem Bruch des SGB II die tatsächlichen Heizkosten nicht anerkannt.
* Bei 15-20% der Haushalte werden die tatsächlichen Unterkunftskosten nicht anerkannt. Bei Eigenheimern werden die Tilgungskosten nicht anerkannt, oft aber auch nicht der Erhaltungsaufwand.
* Die Ausgaben für Gesundheit sind heute aufgrund der "Gesundheitsreform" 2004 um etwa 25% oder etwa 4 Euro höher als in der EVS 2003 erfasst, finden aber im Regelsatz keine Berücksichtigung. (DPWV 2006, 34) Brillen, Hörgeräte, nicht verschreibungspflichtige Medikamente usw. müssen selbst bezahlt werden. 2% des Regelsatzes oder 83,28 Euro gelten als Eigenanteil, die erst mal selbst getragen werden müssen. Krankheit wird mit Regelsatzkürzung bestraft.
* Jeder Besuch in einem Cafe oder einer Kneipe senkt den Regelsatz, weil nur der reine Lebensmittelanteil, d.h. mit 8,17 Euro nur 1/3 der Ausgaben unterer Verbrauchergruppen für Verzehr außer Haus anerkannt werden. Arme Leute sollen nicht in Cafes oder Gaststätten gehen.
* Mobilfunk in Höhe von 10,10 Euro wird nicht anerkannt, obwohl inzwischen 90% der Haushalte ein Handy haben.
* Der Regelsatzanteil für öffentlichen Nahverkehr von rd. 14 Euro im Monat kann die mehr als doppelt so hohen durchschnittlichen Kosten nicht decken.
* Die Alg II-Behörden ziehen häufig Überzahlungen vom Regelsatz ab, obwohl die Alg II-Bezieher sie nicht verschuldet haben. Damit brechen sie das SGB X.
* Wenn Anschaffungen aus Regelsätzen bestritten werden müssen, aus denen sie nicht angespart werden konnten, führt das zu einer faktischen Kürzung des Regelsatzes.
* Häufig werden Einnahmen unterstellt, die es nicht gibt, z.B. Einnahmen von als eheähnlich angesehenen Partnern, von Stiefeltern usw..
* Nicht anerkannte Schulkosten führen ebenfalls zu einem Druck, weniger für Ernährung auszugeben.
Aus all dem und aus noch viel mehr folgt, dass der Regelsatz mit seinen auf den Cent genauen Ausgabebestandteilen in der Regel gar nicht zur Verfügung steht. Der faktische Regelsatz ist erheblich geringer. Was den Eltern entzogen wird, entzieht gleichzeitig auch den Kindern die notwendigen Mittel zum Leben.
Die Nicht-Anerkennung von durchschnittlichen Grundbedürfnissen der Eltern senkt im Durchschnitt vor allem die Ernährungsausgaben, auch die der Kinder, weit unter das offizielle Niveau. Wenn Kinder aus Hartz IV-Familien hungern, kann es also in der Regel nicht daran liegen, dass sich die Eltern zu wenig um sie kümmern. Denn die haben auch zu wenig zu essen.

Schluss: Kürzung der Regelsätze für Schulkinder – warum?
Warum
wurden die Schüler-Regelsätze für Hartz IV-Kinder gekürzt, obwohl doch Regierungsparteien und Arbeitgeberverbände seit der PISA-Studie die Förderung der Bildung aller Kinder, besonders der Kinder aus unteren Schichten propagiern?
Kontraste fabuliert von einem Rechenfehler, der Ursache dafür sein soll, dass Hartz IV-Kinder sich kein Mittagessen an Schulen leisten können. Andere sprechen von Skandal und Willkür und betrachten es als Frage der Moral.
Die Senkung der Regelsätze für Schulkinder ist jedoch ausschließlich Produkt von kalter Berechnung.

Wir sollten nie vergessen:
* Als im Bundestagswahlkampf 2002 die Christenführer Merkel und Stoiber eine Senkung des Eckregelsatzes um 25% verlangten, verlangten sie damit gleichzeitig auch eine Senkung des Regelsatzes aller Kinder. Die CDU hat das Ziel, den Eckregelsatz zu senken, nicht aufgegeben. Es ist aber (momentan) mit der SPD nicht umzusetzen.
* Die Höhe aller Regelsätze, nicht nur die des Eckregelsatzes, sondern auch die Kinder, gilt dem Kapital als Fehlanreiz, der die Arbeitsaufnahme der Eltern angeblich verhindert.
Die Vertreter des Kapitals rechnen den Hartz IV-Bedarf einer vierköpfigen Familie in einen monatlichen Bruttolohn und dann in einen Bruttostundenlohn um.
Eine vierköpfige Familie hat im Durchschnitt je nach Alter der Kinder abzüglich des Kindergelds zwischen 1.216 Euro und 1.354 Euro an SGB II-Bedarf. (Die anerkannten Unterkunfts- und Heizungskosten belaufen sich für eine vier-köpfige Hartz-Familie auf 488 Euro; BA, Grundsicherung für Arbeitssuchende, Wohnsituation und Wohnkosten, Oktober 2006, Tabelle 3) Daraus würde sich ein Stundenlohn von maximal 12 Euro brutto ergeben. Die Vertreter des Kapitals rechnen auch noch das Kindergeld in Bruttolohn um.
So kommen sie zu dem Schluss, dass Erwerbslose mit Kindern keinen Bock haben zu arbeiten, weil sie mehr Geld fürs "Nichtstun" bekommen als für Lohnarbeit. Daraus folgt, dass die Regelsätze gesenkt werden müssen. Daraus folgt auch: wenn man aus politischen Gründen den Eckregelsatz nicht senken kann, dann wenigstens die Kinderregelsätze. Das ist mit Hartz IV geschehen. Um dieses Ziel zu vertuschen, wurden allerdings die Regelsätze für Vorschulkinder leicht angehoben. Spuren verwischen, nennt man das.

Die Rechnung lautet: Je weniger Unterstützung den Eltern und den Kindern zur Verfügung steht, auch für Unterkunfts- und Heizungskosten, desto stärker wird der "Anreiz" für die Eltern, zu den Armutslöhnen zu arbeiten, die Unternehmen zu zahlen bereit sind.
Die beklagte Arbeitsunlust ergibt sich noch nicht, wenn man nur den Bedarf eines Alleinstehenden betrachtet. Seine mickrigen durchschnittlich 662 Euro in einen Bruttolohn umzuwandeln, führt nur zu (fiktiven) Bruttolöhnen von 5-6 Euro. Erst die Kinder erzeugen bemerkenswert hohe Bruttolöhne. Je mehr Kinder, desto höher ist der "Bruttolohn" für die Eltern und desto hemmungsloser wird die ihnen unterstellte Faulheit.

Es sind also letztlich die Kinder, die nach der messerscharfen Analyse der Sprachrohre der Konzerninteressen die Arbeitslosigkeit erzeugen. Wie kann man da noch kinderfreundlich sein? Nicht umsonst stammt die Umrechnung der Hartz IV-Leistungen in Bruttolöhne aus der Werkstatt des Wirtschaftsinstituts des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, dem Institut der deutschen Wirtschaft, und aus der Feder der von Gesamtmetall finanzierten Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft.

Dazu kommt die sinkende Nachfrage des Kapitals nach Arbeitskraft und die damit verbundene sinkende Nachfrage nach dem entsprechenden Nachwuchs. Der eng mit der Deutschen Bank verbundene Prof. Dr. Manfred Pohl erklärte, dass 65% der Arbeitskräfte Maschinen bedienen und einfache geistige Arbeiten verrichten. "Von ihnen ist etwa ein Drittel nicht bildungsfähig, egal wieviele Millionen für ihre Bildung aufgebracht werden." (Pohl, Das Ende des Weißen Mannes, Berlin 2007, 5) Wozu also in Kinder von Hartz IV-Familien investieren, wenn es sich sowieso nicht rechnet?
Die Senkung der Regelsätze für Schulkinder zeigt also auch die Interesselosigkeit an der zukünftigen Arbeitskraft der Kinder aus Hartz IV-Familien. Dieses Desinteresse spiegelt sich darin wieder, dass 2/3 der Hauptschüler und die Hälfte der Realschüler keine Chance auf einen Ausbildungsplatz mehr haben und rd. 40-50% eines Jahrgangs in Warteschleifen kreist.

Schluss:
Wir müssen uns kleine und große Ziele setzen. Kleine Ziele sind ein vertretbarer Zuschuss zum Mittagessen, die Anerkennung der Schulkosten als zu übernehmende notwendige Ausgaben. Größere Ziele sind die Erhöhung des Eckregelsatzes auf mindestens 500 Euro.
Dabei sollte immer der Zusammenhang mit den Interessen des Kapitals hergestellt werden.
Da wir für eine deutliche Regelsatzerhöhung eintreten, sollte die Kampagne gegen Kinderarmut die Hartz IV-Parteien auf allen Ebenen (kommunal, auf Länderebene und bundesweit) mit der Frage unter Druck setzen, warum sie die Regelsätze für Schulkinder und insbesondere die Beträge für Essen und Trinken gesenkt haben.
Das könnte sie empfindlich dabei stören, wenn sie darum rangeln, wer von ihnen den ersten Platz auf der rosa Wolke der Kinderfreundlichkeit einnehmen darf.

mit Dank an Prof. Rainer Roth, Rainer Roth vom Fachbereich Sozialarbeit der Fachhochschule Fankfurt am Main