Der nicht nur vom Verfasser dieses Artikels erlebte Widerspruch in der aktuellen Beratungspraxis des Jobcenters besteht darin, dass die hierarchisch organisierte Verwaltung sich nicht als dienend bezüglich der Beratungs- und Zielerreichungsprozesse versteht, sondern umgekehrt, Beratungsprozesse den Verwaltungsimperativen untergeordnet werden. Vermeintliche Wege zur Zielerreichung der Integration in Arbeit werden in der Hierarchie der Steuerungskette umdefiniert zu eigenen Zielen, beispielweise durch quantifizierte Vorgaben zu Kontaktdichte, zur Maßnahmebelegung, zum Erstellen von Vermittlungsvorschlägen, zur Quotierung von Eingliederungsvereinbarungen oder mündlich kommunizierten Weisungen von Führungskräften (z.B: „Kein Kunde verlässt das Haus ohne Maßnahmezuweisung!“). Dies vermittelt den Beschäftigten das Gefühl, ihre Arbeit erschöpfe sich im Erfüllen von Handlungsaufträgen und der Manipulation sinnentleerter Statistiken. Die leistungsberechtigten Bürger werden durch diese Form der Steuerungslogik zum entindividualisierten Rohmaterial herabgewürdigt, mit dessen Hilfe die Zielvorgaben zu erreichen sind. Und die Beraterinnen in der Beschäftigungsförderung, die so genannten Integrations- und Vermittlungsfachkräfte, werden dadurch zu unreflektierten und willfährigen Erfüllungsgehilfen am unteren Ende der Jobcenterhierarchie degradiert, wenn alleine oder wesentlich die quantitative Erfüllung der Zielvorgaben Gegenstand der Betrachtung und Beurteilung ihrer Arbeitsleistung ist. Von Führungskräften wird Druck ausgeübt,
- dass eine Quote von achtzig Prozent bei den Eingliederungsvereinbarungen erreicht bzw. nicht unterschritten wird,
- dass die Kontaktdichte in Abhängigkeit zu Kundenstatus (arbeitslos, arbeitsuchend, nicht gesetzt), Integrationsprognose (arbeitsmarktnah, nicht arbeitsmarktnah), und sonstigen Kategorisierungen (z.B. Alter, Erziehendenstatus, besondere Arbeitsmarktnähe etc.) eingehalten wird,
- dass eingekaufte Maßnahmen besetzt werden,
- dass Teilnehmer für fragwürdige Gruppeninfos einzuladen sind und, und, und.
Dabei findet nicht einmal mehr von den Führungskräften eine Vorteilsübersetzung für die Beschäftigten statt. Die Führungskräfte wissen dem Grunde nach um die Unsinnigkeit ihrer Arbeitsaufträge. Die einzige Vorteilsübersetzung, die noch stattfindet, ist diese: Die Zahlen müssen stimmen, egal wie, sonst gibt es weitere Arbeitsaufträge. Widerspruch wird quittiert mit der Aufforderung, sich einen anderen Job zu suchen – Zitat einer Führungskraft: „Augen auf bei der Berufswahl!“. Die Statistik muss stimmen, der Balken im Diagramm muss grün sein. Die Eingliederungsvereinbarung ist um ihrer selbst willen abzuschließen, die Kontaktdichte ist um ihrer selbst willen zu pflegen, die Maßnahmen sind zu besetzen, damit eingekaufte Maßnahmen besetzt sind. Koste es was es wolle, und bitte, kommt mir hier nicht mit der Frage nach der Sinnhaftigkeit unserer Arbeit. Wir haben Aufträge zu erfüllen. Wir fragen nicht, wir marschieren. Die protestantische Arbeitsethik bricht sich erbarmungslos Bahn, auch oder gerade im „Martin-Luther-Jahr“: Arbeit als Pflicht, die man erledigt, weil sie erledigt werden muss. Auch wenn die Arbeit sinnentleert ist. Eine Inflation der Arbeitsaufträge ist die Folge der Benchmarkorientierung. Der Verfasser dieser Artikels erhielt im Monat März 2017 allein per dienstlicher Email zwanzig (!) verschiedene Arbeitsauträge und Steuerungsimpulse von unterschiedlichen Steuerungsgebern, im Durschschnitt also einen Arbeitsauftrag täglich. Eine selbstbestimmte, verantwortungsvolle und an Fachlichkeit orientierte Beratungsarbeit, Kernaufgabe in der Beschäftigungsförderung, wird somit annähernd verunmöglicht.
Beratung hingegen wirkt auf Grund ihrer dienstleistungsorientierten, kreativen und freiheitlichen Ausrichtung gegen das Kontrollbedürfnis von Führungskräften in Verwaltungen. Das heißt umgekehrt, dass das daraus resultierende verstärkte Kontrollbedürfnis der Führungskräfte eine gute Beratung im Ergebnis verhindern muss, wenn sich die handelnden Fach- und Führungskräfte innerhalb der Organisation dieser Prozesse und Rollenkonflikte nicht bewusst werden und nicht aktiv gegensteuern. Wenn Mitarbeiterinnen in den Jobcentern gute und verantwortungsvolle Arbeit gerne leisten, dann erfüllen sie quasi als Nebenprodukt in der Regel auch die statistischen Vorgaben. Dabei dürfen aber vorgegebene Quoten und Zielerreichungsparameter nicht die Leitlinien des Handelns bestimmen. Wichtiger ist eine gute Arbeit, die sich an Menschenwürde und Autonomie als Aufgabe und Ziel der Grundsicherung für Arbeitsuchende orientiert, dadurch Sinn erfährt und gerne von den Beschäftigten verrichtet wird, auch weil sie von ihren Vorgesetzten mehr unterstützt als kontrolliert werden.
Von Führungskräften in der Jobcenterhierarchie wird immer wieder gerne und häufig behauptet, es gäbe einen kausalen Zusammenhang zwischen Aktivierungsquote und Zielerreichung. Das ist sicher nicht gänzlich von der Hand zu weisen. Die Schlussfolgerung jedoch, dass sich über die Inputsteuerung einer erhöhten Zahl von Maßnahmezuweisungen oder der Erhöhung der Kontaktdichte etc. per se die Ergebnisse der Zielerreichung verbessern ließen, ist falsch. Richtig hingegen ist, dass wenige Beratungs- oder Vermittlungsfachkräfte offensichtlich die Kompetenz besitzen, adressatengerecht und -spezifisch Maßnahmeangebote zu unterbreiten und auch in der Lage sind einzuschätzen, wie häufig der Kontakt mit dem Kunde zur Zielerreichung erforderlich ist. Die Kausalität zwischen Aktivierung und Erfolg ergibt sich also lediglich dann, wenn bedarfsgerechte Angebote und Methoden zum Einsatz kommen. Werden bei der Betrachtung einer Zielgruppe und ihren Merkmalen willkürliche Kriterien definiert, so kann eine Untersuchung die kuriosesten Ergebnisse hervorbringen. Ein Beispiel: Es besteht in der über einen definierten Zeitraum hin untersuchten Gruppe der Gesamtbevölkerung eines Landes eine Korrelation zwischen der Methode des Erhängens zum Zwecke der erfolgreichen Selbsttötung und dem Konsum von Käse. Wer käme darauf, den erhöhten Käsekonsum für die erhöhte Selbsttötung durch Erhängen verantwortlich zu machen? Diese Schlussfolgerung ist ebenso absurd wie unwissenschaftlich. Aber genau diese Verwechslung von Korrelation und Kausalität begegnet einem häufig, nicht nur in den Aussagen und Behauptungen von Führungskräften aus der Beschäftigungsförderung. Wenn man die Auswirkungen von Instrumenten der Beschäftigungsförderung untersucht, dürfen nicht nur die intendierten positiven Wirkungen betrachtet werden, sondern müssen auch mögliche unbeabsichtigte Nebenwirkungen untersucht werden. Wenn nicht existenzsichernde oder atypische, z.B. befristete, Beschäftigungsverhältnisse durch die Gewährung von Geldleistungen an Arbeitgeber gefördert werden, erreicht die Organisation zwar möglicherweise das gesteckte Ziel der Erhöhung der Integrationsquote. Im gleichen Moment, oder auch verzögert, führt dies aber im Wettbewerb zwischen Arbeitgebern, die die gleiche Dienstleistung anbieten, zu Verzerrungen. Der Arbeitgeber, der dem Flughafenbetreiber die Dienstleistung einer Personen- und Gepäckkontrolle anbietet und die Anstellung von befristeten Beschäftigten mit Lohnkostenzuschüssen vom Jobcenter zum Geschäftsprinzip gemacht hat, wird sich gegenüber dem konkurrierenden Arbeitgeber mit unbefristeten Beschäftigten mittelfristig am Markt durchsetzen, da er seine Dienstleistung billiger anbieten kann als sein Konkurrent. Absurd wird es nachgerade, weil jener Kunde des Jobcenters der statistisch wertvollste Kunde ist, der mehrmals im Jahr seinen Job verliert und wieder einen neuen findet. Aber bitte immer erst im Folgemonat, weil der Datenabgriff nur monatlich erfolgt. Im Sinne des organisationalen Zieles der „Steigerung der Integrationsquote“ wirkt dieser Drehtüreffekt positiv. Aber dieser Effekt ist nicht nur absurd sondern geradezu entwürdigend für die Adressaten. Weitere Beispiele für Verwerfungen durch die gängigen Instrumente aktiver Arbeitsmarktpolitik ließen sich annähernd beliebig fortsetzen.
Die Jobcenter sollten Nachhaltigkeit als ethischen Wert definieren und dann müsste bei der Datenerhebung und Evaluation ein entsprechender Nachhaltigkeitsfaktor eingezogen werden. Bezogen auf das Ziel der Arbeitsmarktintegration ergeben sich beispielsweise folgende Kriterien, die bei Datenerhebung und Interpretation berücksichtigt werden müssen: Handelt es sich um ein befristetes oder unbefristetes Beschäftigungsverhältnis? Dauert das Beschäftigungsverhältnis nach drei, sechs, zwölf und achtzehn Monaten noch an? Konnte eine Überwindung der Hilfebedürftigkeit durch das Arbeitseinkommen erreicht werden? Ein nicht existenzsicherndes Arbeitseinkommen kann im Ergebnis die Autonomie schwächen, weil es die (zwar verminderte) Abhängigkeit von sozialen Transferleistungen um die Abhängigkeit von geringen Lohnleistungen erhöht. Nur so erhalten die Ergebnisse valide Aussagen und führen dann vielleicht auch zu einem Umdenken in der Steuerungslogik hin zur Outcome-Orientierung.
Die Verausgabung der Integrationsmittel (Eingliederungstitel in der Sprache der Jobcenter) zum Selbstzweck kann nie ein strategisches Ziel sein, wird aber in der Praxis der institutitionalisierten öffentlichen Beschäftigungsförderung häufig so betrachtet. Dies führt zu Fehlzuweisungen und unsinnigen Maßnahmeangeboten, die in der Häufigkeit der Verordnung oftmals bereits einen Status der Ritualisierung erreicht haben. Das strategische Ziel müsste stattdessen die Erhöhung der Eintritte in nachhaltige Beschäftigungsverhältnisse sein. Und zur Erreichung dieses strategischen Ziels müssen die Mittel gesamtgesellschaftlich verantwortungsvoll und volkswirtschftlich gewinnbringend eingesetzt werden. Bei der Bilanzierung des Mitteleinsatzes müssen die positiven Effekte überwiegen.
D. Zill