Irrsinn der Eingliederungsvereinbarungen für Hartz- IV-Beziehende

Wie das Jobcenter Sigmaringen rechtswidrige Eingliederungsvereinbarung in Corona-Zeiten erlässt.
Für eine oder für alle?

von Karin Burger

Ein Fahrrad für den Fisch, Tomaten für die Insel Reichenau oder ein Kamm für Oliver Welke: Für Kritiker möglicherweise konsensfähig ist all das ähnlich überflüssig wie die Eingliederungsvereinbarung (EGV) für Hartz-IV-Bezieher.  Trotzdem oder gerade deshalb besteht die gesetzliche Verpflichtung der Jobcenter, mit allen Arbeitslosengeld-II-Empfängern eine solche EGV abzuschließen. Geregelt werden soll dabei, welche Bemühungen der Hilfeempfänger erbringen muss und mit welchen Leistungen das Jobcenter ihn unterstützt. Der Gesetzgeber legt großen Wert auf die Freiwilligkeit dieser sogenannten Vereinbarung, die in Tat und Wahrheit alles andere als freiwillig ist.  In vielen Fällen kommt sie dem Diktat sehr nahe. Denn: Wer die EGV nicht „freiwillig“ unterzeichnet, dem wird sie als Verwaltungsakt aufgezwungen.

Inzwischen kritisieren die Jobcenter selbst dieses Instrument. Wie der Infoservice der Evangelischen Kirche noch kurz vor Ausbruch der Corona-Krise berichtet, belegt eine im Februar 2020 veröffentlichte Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit (IAB), dass bei einer anonymisierten Online-Umfrage von 360 Vermittlungsfachkräften die Mehrheit der Befragten die EGV als „weniger sinnvoll“ insbesondere für drei Personengruppen erachten. Diese sind: motivierte Personen, Personen mit gesundheitlichen Einschränkungen, Personen mit geringen Deutschkenntnissen.

https://www.evangelisch.de/inhalte/165812/11-02-2020/jobcenter-ueben-kritik-eingliederungsvereinbarungen

Und dann kam Corona. Shutdown, Lockdown und globale Verzweiflung schienen dem Jobcenter Sigmaringen (Baden-Württemberg) offensichtlich der ideale Zeitpunkt, eine (oder alle?) „Kunden“ in seinem Zuständigkeitsbereich mit einer nicht mehr freiwilligen EGV zu überziehen. Im vorliegenden Fall handelte es sich um eine Aufstockerin, die zum Zeitpunkt der Kontaktaufnahme des Jobcenters noch über eine weitere, fünf Wochen lang gültige EGV verfügte. Telefonisch wurde ihr mitgeteilt, dass das Jobcenter Sigmaringen die EGV wegen Corona jetzt als Verwaltungsakt erlasse. Ihre Einwände, dies sei nicht statthaft und sie sei auch bereit, eine weitere EGV zu unterzeichnen, prallten an der zum rechtswidrigen Verwaltungsakt verbissen entschlossenen Betreuerin ab.

Übrigens gehört die Spätrömerin im vorliegenden Fall gleich zwei der drei oben bezeichneten Personengruppen an, für die viele Vermittlungsfachkräfte eine EGV nicht für sinnvoll halten. Sie spricht und schreibt auch ganz leidlich Deutsch.

Die EGV als Verwaltungsakt kam. Die zwangsweise Reingegliederte erhob Widerspruch mit Verweis auf das Urteil des Bundessozialgerichts (Az. B 14 AS 195/11 R) aus dem Jahr 2013. Da war Ähnliches geschehen, was das Gericht als Verstoß gegen die Intention des Gesetzgebers bewertete. Der betont ausdrücklich den konsensualen Charakter der Fisch-Tomaten-Kamm-Maßnahme.

Ihrem Widerspruch, der die EGV als Verwaltungsakt im vorliegenden Fall als eindeutig rechtswidrig markiert, wurde vom Jobcenter Sigmaringen abgeholfen. Die Hartzerin erhielt eine „reguläre“ EGV auf dem Postweg.  Diese Fallkonstellation war mithin geklärt.

Arbeitsvermittlerin mit hohem Faktenabstand
Alles gut? Alles schick? Nein. Denn bei einem darauf folgenden Ich-möchte-mich-bei-Ihnen-entschuldigen-Anruf der Sigmaringer Arbeitsvermittlerin bei der erfolgreichen Querulantin plapperte Erstgenannte frohgemut (oder manipulativ?) heraus: Das Jobcenter Sigmaringen habe nicht nur in diesem Fall die EGV als Verwaltungsakt erlassen, sondern sei solcherart mit allen ALG-II-Empfänger*innen im Zuständigkeitsbereich der Behörde verfahren.

Mit allen? Mithin würde die Rechtswidrigkeit einer EGV als Verwaltungsakt im Landkreis Sigmaringen System erhalten? Das fordert die Journalistin.

Presseanfrage dazu sowohl an das Jobcenter Sigmaringen und das Landratsamt Sigmaringen wie an die Bundesanstalt für Arbeit in Nürnberg (BA) und die Regionaldirektion Baden-Württemberg der BA. Antwort kam lediglich und auch erst nach einem äußerst schrägen Telefonat von der BA-Regionaldirektion. Die Auskunft bestätigt – für den Regelfall außerhalb von Corona – auch nur, was zuvor schon bekannt war: „Das Gesetz sieht den Abschluss einer einvernehmlichen E[G]V vor. Der Erlass einer solchen als Verwaltungsakt stellt eine Ausnahme dar. Diese greift bei fehlender Einvernehmlichkeit. Der Grund warum eine Verständigung gescheitert ist, ist dabei unerheblich“ (Presseauskunft Regionaldirektion Baden-Württemberg vom 25. Mai 2020).

Und unter Corona ist dann noch einmal alles anders, wie weitere Ausführungen belegen:

Als Folge der Corona-Eindämmungsmaßnahmen ist aktuell eine persönliche Vorsprache im Jobcenter nur eingeschränkt möglich. Beratungen werden stattdessen vermehrt online und telefonisch durchgeführt.
Das Fehlen der Möglichkeit zum persönlichen Gespräch erschwert es natürlich, eine EV durch die notwendigen zwei Unterschriften einvernehmlich zu erstellen. Dies bedeutet aber nicht, dass nun vermehrt EV durch VA erlassen werden sollen. Vielmehr hat die Bundesagentur für Arbeit als bundesweite befristet geltende Regelung zugelassen, dass vom Abschluss oder Fortschreibung von EV während der persönlichen Kontaktbeschränkungen durch Corona abgesehen werden kann.
Diese Regelung greift seit dem 6.Mai 2020, also erst zu einem Zeitpunkt
[sic] der nach der [sic] in Ihrer Anfrage beschriebenen Sachverhalte [sic] aus dem April 2020 liegt.
(Presseauskunft Bundesanstalt für Arbeit, Regionaldirektion Baden-Württemberg 25.05.2020)

 

Der tiefe Gestaltungsraum von „Einzelfall“
Auch nicht uninteressant: Die Auskunft der Arbeitsvermittlerin gegenüber der Widerspruch-Führenden im vorliegenden Fall, bei der es sich, jetzt darf ich es verraten, um die Autorin dieses Artikels handelt, war offensichtlich nicht die Wahrheit? Zumindest, wenn man der Auskunft der BA-Regionaldirektion Glauben schenken möchte: „Nichtdestotrotz gab und gibt es im Jobcenter Sigmaringen keine allgemeingültigen Regeln, die den Erlass von EV als VA pauschal für alle KundInnen regeln. Dieses Vorgehen kommt nur dann zur Anwendung, wenn es nach einer Einzelfallabwägung für notwendig gehalten wird“ (ibid.).

Also waren es im Zuständigkeitsbereich des Jobcenters Sigmaringen doch nicht alle „Kunden“, die von der rechtswidrigen EGV als Verwaltungsakt betroffen waren? Wenn das keine Schutzbehauptung ist, dann war es mindestens genau diese eine Kundin!

Was mag die „Einzelfallabwägung“ in Sigmaringen wohl ergeben haben? Man weiß es nicht. Was man allerdings weiß: Bei der 60+-Aufstockerin handelt es sich um eine kritische Journalistin, die sich auf ihrem Blog (SatireSenf.de) seit 2017 mit Demokratiedefiziten, Intransparenz und Bürgerferne der Kommunen und Landratsämter in den südöstlichen Landkreisen Baden-Württembergs beschäftigt. Dort und in ihren Artikeln für die Wochenzeitung KONTEXT attackiert sie Bürgermeister, Landratsämter und Regierungspräsidenten in pointierter Diktion und zieht selbige auf jede erdenkliche Weise durch den Kakao beziehungsweise Senf.

Seit mehreren Jahren im Bezug stehend, begannen die repressiven Maßnahmen des Jobcenters Sigmaringen erst nach 2017. Frist- und formgerecht gestellte Anträge wurden plötzlich nicht mehr fristgerecht bearbeitet und Zahlungen nicht geleistet. Die zuständige Leistungssachbearbeiterin war von offensichtlich nicht nur temporärer Kränklichkeit befallen, sondern wiederholt.  Dieser „Grund“ wurde sogar in die Bescheide aufgenommen. Seit vielen Jahren unbeanstandet übernommene Heizkosten sollten urplötzlich viel zu hoch sein: Heizkostenabsenkungsaufforderung.

Und das „Schräge“ in dem genannten Telefonat war die von der Regionaldirektion der BA bejahte Unterstellung, die hauptberufliche Journalistin missbrauche ihren Pressestatus im vorliegenden Fall.

Das ist allein schon deshalb Unsinn, weil die individuelle Fallkonstellation zum Zeitpunkt der Presseanfrage schon geklärt war. Überlegt kalkuliert, um genau diesen Vorwurf zu vermeiden.

Wer das Ressourcen-Management und den Ethos des Jobcenters Sigmaringen für sich zu Hause nachspielen möchte, er muss nur tote Fische kämmen und mit dem Fahrrad über schwerbehinderte Tomaten fahren.

 

Autorin:
Karin Burger
Linguistin M. A. – Freie Publizistin
Kontakt: E-Mail: RedaktionSaSe@mail.de

 

Anmerkung der Redaktion des Erwerbslosenforum: Diese unsinnigen Eingliederungsvereinbarungen scheinen zur Zeit kein Einzelfall zu sein. Auch im Jobcenter Bonn werden aus sturem Gehorsam zur Zeit Eingliederungsvereinbarungen herausgehauen, die überhaupt keinen Sinn ergeben. So sollte beispielsweise eine Frau, die inzwischen volle Erwerbsminderungsrente bezieht dennoch eine Eingliederungsvereinbarung unterzeichnen und allen Ernst zudem auch noch Bewerbungsbemühungen nachweisen.