Grundrechte sind nicht auf dem schwarz-gelben Basar verhandelbar

Berlin – „Die Bundesregierung weigert sich, die Vorgaben aus Karlsruhe zur Neuberechnung der Hartz IV-Regelsätze in angemessener Weise zur Kenntnis zu nehmen und umzusetzen. Erst legt sie die Berechnungsverfahren nicht offen. Dann streitet sie über die Höhe der Sätze, als sei diese nach Gutsherrenart festzulegen – und all das auf dem Rücken der Betroffenen. Grundrechte wie das auf ein menschenwürdiges Existenzminimum sind aber nicht auf dem schwarz-gelben Basar verhandelbar. Das erbärmliche Gefeilsche läuft auf einen erneuten Verfassungsbruch mit allen juristischen Konsequenzen hinaus“, kritisiert Katja Kipping den koalitionsinternen Streit über die künftige Höhe der Hartz IV-Regelsätze. Zu dem von Arbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) vorgelegten Gesetzentwurf erklärt die sozialpolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE  weiter:

„Bisher unbeachtet von der Öffentlichkeit werden weitere Weichenstellungen zu Lasten der Langzeitarbeitslosen vorgenommen. So sollen die Sanktionsmöglichkeiten verschärft werden. Spätestens seitdem die Karlsruher Richter den Grundrechtscharakter des Existenzminimums betont haben, erscheint das Sanktionsregime aber zumindest in Teilen als Verfassungsbruch. Wie lassen sich ein kompletter Entzug von Leistungen, die akute Drohung mit Wohnungslosigkeit und Verelendung – insbesondere bei jungen Menschen –  mit der Menschenwürde vereinbaren?

DGB: Neuregelung von Hartz IV darf sich nicht nach Kassenlage richten

Foto: http://medien.dgb.de/still_buntenbach.jpg

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Als „Armutszeugnis“ für die Bundesregierung bezeichnete DGB-Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach am Montag in Berlin bekannt gewordene Überlegungen zur Neuregelung der Hartz IV-Regelsätze. „Offenbar will die Bundesregierung das Regelsatzurteil des Bundesverfassungsgerichts möglichst ,billig’ umsetzen.“ Nicht das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Leben, sondern die Kassenlage des Bundes scheint hier im Fokus zu stehen. Statt der vom höchsten deutschen Gericht geforderten Transparenz und einer empiriegestützten Ableitung der Sätze gerecht zu werden, werde offenbar so lange gerechnet, bis das politisch gewünschte Ergebnis vorliegt.

Regelsätze, die sich aus einer korrekten Auswertung der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) ergeben, sollen offenbar durch statistische Eingriffe bei der maßgeblichen Referenzgruppe nach unten gedrückt werden. „Wenn nur noch das Konsumverhalten der Allerärmsten der Einkommens-Pyramide berücksichtigt wird und noch nicht einmal ,verdeckt’ Arme und erwerbstätige Hartz IV-Aufstocker aus der Referenzgruppe herausgerechnet werden, treibt man die Hartz IV-Empfänger durch Zirkelschlüsse immer weiter in die Armut“, kritisierte Buntenbach.

Die vorgesehene jährliche Anpassung der Sätze nach einem Mixindex von Preis- und Lohnentwicklung reiche aber nicht aus. Sachgerecht wäre eine reine Kopplung an die Preisentwicklung der regelsatzrelevanten Güter.

Der DGB fordert eine ergebnisoffene, korrekt ermittelte EVS-Auswertung. „Eine unabhängige Sachverständigenkommission sollte dem Gesetzgeber Vorschläge unterbreiten. Hierbei müssen Bedarfsstudien zur Bildung, sozialen Teilhabe und gesunden Ernährung erstellt werden. Erst dann kann über die Frage öffentlich fundiert diskutiert werden, was ein Mensch zum Leben braucht, forderte Buntenbach. Eine bloße EVS-Auswertung sage nichts über den tatsächlichen Bedarf aus, sondern zeige nur das Konsumverhalten innerhalb des Mangels. Wenn das Einkommen nicht reiche, könne bestehender Bedarf – z.B. im Bereich Bildung – auch nicht gedeckt werden.

Die Bedeutung der Regelsatzfestlegung reiche weit über das Hartz IV-System hinaus, unterstrich Buntenbach. „Die Regelsätze und die steuerfreien Grundfreibeträge im Einkommenssteuerrecht sind zwei Seiten derselben Medaille. Deshalb werden alle Erwerbstätigen von einer Erhöhung der Regelsätze profitieren. Das zeigt wieder einmal, dass die Interessen der Arbeitslosen und ArbeitnehmerInnen eng beieinander liegen.“

Zudem verenge die Diskussion um den Bildungs-Chip den Blick, betonte Buntenbach. „Die Probleme im Bildungsbereich gehen über Hartz IV hinaus und müssen an einem ‚Runden Tisch Kinderarmut’ besprochen werden – unter Beteiligung aller drei staatlichen Ebenen.“ Statt für einen Chip oder Gutscheine plädiere der DGB für einen Mix aus Geldleistungen und sozialer Infrastruktur rund um Kitas und Schulen.

Erneuter Koalitionskrach wegen Hartz IV-Regelleistungen

Berlin – Die geplante Neuberechnung der Regelsätze für Hartz IV-Bezieher sorgt für neuen Streit in der Koalition. Demnach lehnt Bundesaußenminister und FDP-Chef Guido Westerwelle eine deutliche Erhöhung von Hartz IV ab. Laut “Bild”-Zeitung habe Westerwelle in der Telefonkonferenz am Dienstag mit FDP-Fachpolitikern wörtlich gesagt: “40 Euro im Monat mehr für jeden Hartz-IV Empfänger, aber Nullrunden – das ist nicht gerecht.

Arbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) hatte am Montag einen Entwurf zur Neuregelung von Hartz IV vorgelegt. Von der Leyen will künftig die jährliche Anpassung der Hartz-IV-Bezüge von der Lohn- und Preisentwicklung abhängig machen. Außerdem sollen die Kosten für Internet und die Praxisgebühr zum Existenzminimum von Langzeitarbeitslosen gehören. Die Ministerin besteht bei der Neureglung der Unterstützung für Kinder aus Hartz-IV-Familien auch nicht auf einer Bildungschipkarte. Kinder und Jugendliche aus Hartz-IV-Familien sollen in Zukunft über das Jobcenter auch Zuschüsse für die Lernförderung, Schulmaterial, Mittagessen und Freizeitaktivitäten erhalten.

Grünen-Fraktionschef Jürgen Trittin hingegen hat Arbeitsministerin von der Leyen (CDU) bei Hartz IV eine verfehlte Politik vorgeworfen. “Arbeitsministerin von der Leyen drückt sich um die Frage, wie hoch die Grundhöhe der Regelsätze tatsächlich liegen sollen. Die Debatte um Sachleistungen für Bildung und die Bildungschipkarte lenken von dem Kern des Problems ab”, sagte Trittin der “Rheinischen Post”. Der Regelbetrag müsse auf 420 Euro angehoben werden. Trittin fügte hinzu: “Das Modell der Bildungschipkarte hilft nicht. Denn es handelt sich um eine freiwillige Leistung der Kommunen. Das heißt, Städte wie Düsseldorf werden sie zur Verfügung stellen können. In Duisburg und Gelsenkirchen, wo Haushaltsnotlage herrscht, wird dies nicht möglich sein. Hier aber wird sie gebraucht.” Von der Leyen hatte am Montag einen Entwurf zur Neuregelung von Hartz IV vorgelegt. Dabei soll künftig die jährliche Anpassung der Hartz-IV-Bezüge von der Lohn- und Preisentwicklung abhängig sein. Außerdem sollen die Kosten für Internet und die Praxisgebühr zum Existenzminimum von Langzeitarbeitslosen gehören. Konkrete Zahlen sollen erst in einer Woche bekannt gegeben werden.


pr-sozial/dts

Katja Kipping: Von der Leyen steuert auf Verfassungsbruch zu

Quelle: http://www.katja-kipping.de/topic/21.fotogalerie.html?picture=5#gallery

„Ministerin von der Leyens Gesetzentwurf verstößt in einem zentralen Punkt gegen die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts: Das Verfahren zur Neuberechnung der Hartz IV-Regelsätze ist weder nachvollziehbar noch transparent“, sagt Katja Kipping, sozialpolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE. „Alle Indizien deuten auf eine Berechnung nach Kassenlage hin. Was künftig als menschenwürdiges Existenzminimum gelten soll, diktiert der Haushaltsplan des Finanzministers. Dagegen muss sich die Opposition gemeinsam wehren – im Bundesrat und gegebenenfalls auch vor dem Bundesverfassungsgericht.“ Kipping weiter:

„Nach dem Transparenz-Gebot wäre es richtig gewesen, zuerst die Berechnungsmethode festzulegen und danach auf der Grundlage der Daten den Betrag zu ermitteln. Das hat die Regierung offensichtlich unterlassen, um die Höhe der Leistungen weiterhin kontrollieren zu können. Zudem wird sie entgegen den ausdrücklichen Vorgaben aus Karlsruhe die sogenannten verdeckt Armen – Menschen, die ihnen zustehende Leistungen nicht in Anspruch nehmen – nicht aus der Referenzgruppe herausrechnen.  Aber nicht nur hinsichtlich Nachvollziehbarkeit und Transparenz ist die Bundesregierung mit den Vorgaben aus Karlsruhe sehr lax umgegangen. Aussagen des Gerichts, die an der Zulässigkeit von Sanktionen und der Bedarfsgemeinschaftskonstruktion zweifeln lassen, hat sie gleich ganz ignoriert.

Hinzu kommt, dass die Regierung ihr Gesetz im Hauruck-Verfahren durchsetzen will. Dem Sozialministerium zufolge soll die öffentliche Anhörung im Ausschuss erst drei Tage vor der abschließenden Lesung im Bundestag stattfinden. Unter solchem Zeitdruck haben es kritische Stimmen schwer, Gehör zu finden. Als Vorsitzende des Fachausschusses kann ich diese Verletzung parlamentarischer Grundsätze nicht hinnehmen. Jetzt bedarf es einer breiten Allianz zur Verhinderung von Manipulationen und Verfahrenstricks.“

Erwerbslosennetzwerke zeigen sich enttäuscht von Hartz IV-Regelungen

10. 10. 2010 – Bundesweite Demo gegen Mangelernährung bei Hartz IV

Viele gesellschaftliche Gruppen wie Gewerkschaften, Milchbauern und Sozialverbände und -initiativen unterstützen sie dabei

Berlin/Bonn/Oldenburg – Die großen Netzwerke der Erwerbslosen sind von den heute durch Bundesarbeitsministerin Ursula von Leyen vorgestellten Details zur Neuberechnung der Hartz IV-Regelsätze enttäuscht. Das große Problem der völlig unzureichenden Mangelernährung sei überhaupt kein Thema gewesen, obwohl in der Regelleistung allein schon für eine ausgewogene und gesunde Ernährung 80 Euro fehlen würden. Von-der-Leyen’s Ankündigung, Kosten eines Internetanschlusses und die Praxisgebühr von zehn Euro als Ausgabenposten zu berücksichtigen, sei schon längst überfällig. Dennoch sei dies reine Augenwischerei, weil die Ministerin offen ließ, ob im Gegenzug andere Ausgabeposten gestrichen werden. Die Debatte um Chipkarten für Kinder lenke zudem von den eigentlichen Problemen ab.

Erwerbslose  rufen deshalb zum 10. Oktober in Oldenburg zu einer bundesweiten Demonstration auf. Das Motto lautet: „Krach schlagen – statt Kohldampf schieben! 80 Euro für Ernährung sofort!“

Hier soll auf die schlechte Ernährungssituation von Hartz IV-Beziehern,  auf die erbärmlichen Beschäftigungsverhältnisse im Discounthandel und die ausbeuterischen Arbeitsbedingungen in der Produktion von Nahrungsmitteln aufmerksam gemacht werden.

Auch den Bauern und Landarbeitern – gleich ob in Deutschland, in den Folientunneln von Almeria oder den Kakaoplantagen Zentralafrika’s stehen faire Einkommen zu. Dumpingpreise sind überall unakzeptabel.

„Von Oldenburg wird ein Signal und eine neue Aktionsform des Protestes ausgehen, der die Bundestagsabgeordneten während des gesamten parlamentarischen Entscheidungsprozesses um Hartz IV immer und immer wieder begleiten wird“, so Martin Behrsing, Sprecher des Erwerbslosen Forum Deutschland.

Martin Künkler von der Koordinierungsstelle gewerkschaftlich organisierter Arbeitslose (KOS) erklärt: „Die Regierung will erneut Hartz IV künstlich kleinrechnen. Dagegen wollen wir in Oldenburg demonstrieren und uns für Leistungen einsetzen, die sich am Bedarf orientieren.“

Der Entwurf der Arbeitsministerin von der Leyen sieht unter anderem vor, dass Kommunen die Kriterien der Unterkunftskosten selbst bestimmen können. Das könnte für viele Menschen bedeuten, dass sie sich kleinere Wohnungen suchen müssen oder aber die nichtgetragenen Kosten von ihrem Eckregelsatz tragen müssen

Beschäftigte, Milchbauern und Erwerbslose stehen zusammen für eine faire Gesellschaft.

Wir Erwerbslose wollen Regelsätze und Einkommen für alle, die eine ausreichende und gesunde Ernährung ermöglichen – von dem wir uns z. B. auch „faire Milch“ in Läden kaufen können, in denen Mitarbeiter von ihrem Lohn noch anständig leben können, weil wir das richtig und wichtig finden“, so Guido Grüner von der Arbeitslosenselbsthilfe Oldenburg (Also) und ergänzt: „Zu wenig Hartz IV ist schlecht für alle! – 80 Euro mehr sofort für eine gesunde Ernährung.“